Lehrerinnen und Lehrer, die auch mal spielen dürfen, die Freude am Unterrichten haben und die Kinder daran teilhaben lassen – der Waldorfpädagoge Niko Ginter zeichnet im Interview ein Bild davon, was Schule kann, wenn man sie lässt – nämlich Kinder mit Freude und Neugier zu selbstbestimmten Menschen heranwachsen zu lassen.

 

Standardisierte Matura, PISA – immer geht es darum, dass Schülerinnen in ein Schema passen sollen und Leistung erbringen sollen. Wieso funktioniert das nicht?

Ich denke, dass Schüler Leistungen erbringen ist eine faire und auch für ihre Entwicklung wichtige Aufgabe. Die Frage sollte eher sein: Wie messe ich Leistung? Denn die Art und Weise wie Leistung gemessen wird, bringt das eigentliche Korsett. Schüler erbringen Leistungen auf unterschiedlichste Art und Weise. Die Aufgabe der Pädagogik wäre es, diese Leistungen zu sehen – oder besser – die Aufgabe der Schule ist es, diese Leistungen sichtbar zu machen.

 

Was könnte man im öffentlichen Schulsystem verbessern, womit punktet die Waldorfschule im Vergleich?

Zu allererst möchte ich sagen, dass nicht alles schlecht ist, was in öffentlichen Schulen passiert. Es gibt engagierte Lehrer und innovative Pädagogen, aber das System, in dem sie sich bewegen, lässt ihnen zu wenig Spielraum. Ich verwende den Begriff absichtlich, denn es wäre für Lehrer wichtig ab und an zu spielen. Ihre Schüler lernen durch Nachahmung, aber ich ahme nur nach, wenn ich angesprochen werde – also mein Selbst sich angesprochen fühlt. Da gehören Emotionen dazu. Lachen, spielen, entdecken – und das in einem sozialen Gefüge, dass durch den Lehrer oder die Lehrerin gehalten wird. Waldorfschulen haben in diesem Sinn mehr Freiräume.

 

Die Angst vieler Eltern ist, dass ihre Kinder als Erwachsene zum Scheitern verurteilt sind, wenn sie sich nicht der Konkurrenz und dem Leistungsdruck in einer öffentlichen Schule aussetzen. Wie kann man auch ohne Wettbewerb in der Schule und im Leben erfolgreich sein?

Wettbewerb ist ja nicht per se aus der Waldorfpädagogik verbannt. Die Frage ist es, welchen Formen von Wettbewerb ich mich aussetzen muss. Die Frage nach der Konkurrenz ist eine grundlegende. Ist unsere Wirtschaft wirklich nur auf ein höheres Gerempel zu reduzieren?  Wenn ich mich in der Welt so umschaue, dann ist das, wonach wir uns sehnen, doch eher ein miteinander. Und auch aus der Geschichte zeigt sich, dass der Mensch sich dann erfolgreich durchsetzt, wenn er kooperiert. Wir leben zum Beispiel heute in einer Zeit, in der die Menschen so frei sind, wie nie zuvor – sie haben Freizeit und  Angebote ohne Ende – und sind doch so unzufrieden wie selten zuvor. Da muss sich auch die Pädagogik fragen, welchen Weg wir als Gruppe weitergehen wollen?  Am Ende soll doch ein Schüler stehen, dessen Ziel es ist, selbstbestimmt erfolgreich zu sein. Dazu muss er lernen, seine Stärken einzusetzen. In der Regelschule wird ihm aber zunehmend gezeigt, dass er sich um seine Schwächen kümmern soll. Ich denk, man sollte sich bei der Definition von Erfolg dieser Tatsache bewusst sein.

 

Lernen durch Bindung und Nachahmung – Hirnforscher wie Gerald Hüther bestätigen Dinge, die in der Waldorfpädagogik schon seit Jahrzehnten praktiziert werden. Wie funktioniert Lernen durch Bindung? Warum wird das im öffentlichen Schulsystem nicht berücksichtigt?

Wie gesagt, nicht die Schule oder das System sind ausschlaggebend, sondern der Unterrichtende. Es gibt auch gute Lehrer im öffentlichen Bereich, sogar sehr viele. Aber es ist ihnen ein engerer Rahmen gesetzt. Den gilt es zu durchbrechen. Schule bildet nicht, sondern bietet Bildungsmöglichkeiten.  Der Schüler muss die Bildungsmöglichkeiten ergreifen – besser noch – ergreifen wollen. Und das tut er, indem er sich mit dem Lehrer, dem Gegenstand, der Klasse etc. verbindet. Bildung als Angebot setzt ein anderes Bewusstsein vom Gegenüber voraus. Da sind wir wieder bei Kooperation statt reiner Konkurrenz.

 

Was ist das Wichtigste, das die Schule einem Kind mit auf den Lebensweg geben sollte?

Sei das beste Du, das Du sein kannst! Und probiere, sei neugierig, erforsche und mache eigene Schlüsse.  Und bereichere die Welt mit Dir.  Was dann noch dazu kommt ist ein kritisches Denken – auch meiner eigenen Weltsicht gegenüber. Steiners drei Grundsätze – „Die Welt ist gut, die Welt ist schön und die Welt ist wahr“ – sollten dem Unterricht der unterschiedlichen Stufen unterlegt sein. Wenn ich die Welt als gut (soziales Bewusstsein) schön (ästhetisches Bewusstsein) und wahr (moralisches /kritisches Bewusstsein) erkennen kann, finde ich mich in dieser Welt auch zurecht.